Zur opti 2014 stellten verschiedene Anbieter einer breiten Fachöffentlichkeit erstmals eine neue Technik zur Brillenglasbestimmung mit der Bezeichnung „3D-Refraktion“ vor. Diese stieß auf ein ungeahnt großes Interesse und hat sich schnell in der Augenoptik verbreitet: Bisher wurden mehr als 2000 derartiger Systeme verkauft, die einen günstigen Einstieg in die für eine vollständige Brillenglasbestimmung erforderliche Messtechnik bieten. Viele Fachleute wünschen sich mittlerweile eine unabhängige Bewertung durch die IVBS.
Wesentliche Unterschiede zu den derzeit anerkannten und bewährten Standards in der Brillenglasbestimmung
1.1 Die gesamte Brillenglasbestimmung soll im Binokularsehen erfolgen, d.h., Sphäre und Zylinder sollen nicht mehr im Monokularsehen ermittelt werden. Zitat der Entwickler: „Die Zudeckscheibe ist abgeschafft“ [Kalder D, Paßmann F, Optometrie 4/2014, S. 9]
1.2 Während der gesamten Brillenglasbestimmung soll im Normalfall ein stereoskopisches Hintergrundbild dargeboten werden, wodurch sie zu einer sogenannten „Erlebnisrefraktion“ werden soll. Zitat der Entwickler: „Dem Kunden wird ein neuartiges Seherlebnis geboten, welches einem entspannten Heimkinoabend gleichkommt.“ [Kalder D, Paßmann F, Optometrie 4/2014, S. 8]
1.3 Noch bevor die aktuellen Werte für Sphäre und Zylinder bekannt sind, sollen Stereopsis und Augendominanz überprüft werden.
1.4 Die gesamte Untersuchung soll schneller ablaufen und dabei sogar zu genaueren Ergebnissen führen. Zitat eines Vertreibers: „Damit wird eine viel genauere und schnellere Messung als mit dem bisherigen System erreicht.“ [http://www.optovision.de/de/430-iSyncro-3D-Refraktion.htm] Einige Anwender werben gleichlautend mit der Aussage: „Unser neuer 3D-Sehtest sagt Ihnen in 10 Minuten alles über Ihre Augen und welche Brille optimal für Sie ist“.
2 Zur monokularen Refraktion unter binokularen Bedingungen
2.1 Ein durchaus plausibler Aspekt bezieht sich auf die Bestimmung der Zylinderachsen. Denn bei Zyklophorie weicht die Zyklo-Vergenzstellung im Binokularsehen möglicherweise von der Augenstellung im Monokularsehen ab. Liegt zusätzlich ein Astigmatismus vor, so hat dies zur Folge, dass die im Monokularsehen bestimmte Zylinderachse für das beidäugige Sehen falsch ist. Insofern ist es schlüssig, die endgültige Achslage im Binokularsehen festzulegen. Relevante Auswirkungen sind allerdings nur in Fällen mit stärkerem Astigmatismus und ausgeprägter Zyklophorie zu erwarten.
2.2 Die Standard-Testreihe des PasKal-Systems enthält einen Test zum Bestimmen von Sphäre und Zylinder unter binokularen Bedingungen, der dem zu prüfenden Auge eine Testfläche mit drei Optotypenzeilen darbietet, während dem anderen Auge lediglich eine leere weiße Testfläche gezeigt wird. Diese Testanordnung erzeugt völlig unnatürliche Sehbedingungen: Während für ein Auge höchste Anforderungen an die Sehschärfe bestehen, liegt im anderen Auge zentral kein adäquater Reiz vor. Möglicherweise ist dies eine Ursache für an diesem Test immer wieder auftretende Störeffekte, die als „Bildrauschen“ oder „Schleiersehen“ beschrieben werden. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang insbesondere, ob für derartige Irritationen auch alte Fixationsdisparation in Betracht zu ziehen ist, bei der sich bekanntlich in der Foveamitte des abweichenden Auges visuelle Hemmungen ausbilden und manifestieren können.
2.3 Zu Beginn der Untersuchung ist der binokulare Status des Klienten meist noch nicht hinreichend abgeklärt. Es ist jedoch unbestritten, dass in 70 bis 80% aller Fälle eine Heterophorie vorliegt. Aufgrund der Koppelung von Akkommodation und Vergenz besteht in all diesen Fällen die Gefahr einer Fehlrefraktion. So könnte z.B. die zum Ausgleich einer Exophorie (nur im Binokularsehen!) aufgebrachte Konvergenz mit einer positiven Akkommodation einhergehen und in der Folge zu viel Minus oder zu wenig Plus angenommen werden. Ob und in welchem Ausmaß dieses Problem auftritt, hängt vom individuellen Grad der Koppelung ab. Sicher ist jedoch, dass dieses Problem bei einer im Monokularsehen durchgeführten Refraktionsbestimmung nicht auftreten kann.
2.4 Zu Beginn der Untersuchung ist auch noch nicht sicher, ob bizentrale Abbildung besteht. Beim Vorliegen von Fixationsdisparation würden die Refraktionswerte im abweichenden Auge somit nicht für die Foveola ermittelt, sondern für eine disparate Netzhautstelle, für die aufgrund des Niveauunterschieds eine andere Refraktion gilt. Mögliche Auswirkungen wären Manifestation einer disparaten Korrespondenz, herabgesetzte binokulare Sehschärfe sowie schlechtere Stereopsis.
2.5 Bei monokularer Durchführung der Refraktionsbestimmung hat das Augenpaar die Gelegenheit, einen im freien Sehen erforderlichen Fusionstonus aufzugeben und seine Ruhestellung einzunehmen. Hinter der Zudeckscheibe kann also eine Entspannung der Motorik stattfinden. Bei der vorgeschlagenen binokularen Refraktionsbestimmung entfällt diese Möglichkeit zur Tonuslösung. In der Folge kann die Ermittlung der Vergenz-Ruhestellung bei der Heterophoriebestimmung deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen.
2.6 Die Zudeckscheibe ist also weiterhin erforderlich. Weitere Beispiele für Fälle, in denen eine „monokulare Refraktion unter binokularen Bedingungen“ problematisch sein kann: alternierendes Sehen, stark ausgeprägte visuelle Hemmungen in einem der beiden Augen, Fusionsprobleme aufgrund von Aniseikonie, Amblyopie.
3 Zur Überprüfung der Stereopsis zu Beginn der Untersuchung
3.1 Es ist zu begrüßen, dass bei diesen Systemen eine Überprüfung des Stereosehens obligatorisch ist. Dies rückt die hohe Bedeutung des Binokularsehens in das Bewusstsein eines jeden Anwenders. Zur Interpretation dieser am Anfang der Untersuchung stehenden Teste finden sich jedoch fachlich fragwürdige Herstelleraussagen wie: „…liefert eine Entscheidungshilfe für eine prismatische Korrektion.“ [wiki.optik.de/w/index.php/Testübersicht#Ballon-Test] Dieser Test wird dort unter der Kategorie „Screening-Teste“ aufgeführt. Ein Stereopsistest ist jedoch zum Auffinden korrektionsbedürftiger Heterophorien prinzipiell ungeeignet, denn bei motorisch voll kompensierter Heterophorie kann durchaus ideale Stereopsis bestehen. Trotz eines in diesem Fall unauffälligen Testergebnisses kann der Kompensationsaufwand für Beschwerden verantwortlich sein und somit eine korrektionsbedürftige Heterophorie vorliegen. Zu berücksichtigen ist, dass die in den aktuellen Systemen verwendeten Eingangstests aufgrund relativ großer Stereowinkel nur eine grobe Überprüfung zulassen. Aus einer guten Grob-Stereopsis zu schließen, eine weitere Prüfung auf Heterophorie wäre verzichtbar, wäre eine fatale Fehlinterpretation.
3.2 Ebenso problematisch ist ein Schnelltest auf Eso- bzw. Exophorie anhand subjektiver Empfindungen bezüglich der nach vorne und hinten stehenden Stereoobjekte. Ohne mehrmaliges Wechseln der Querdisparationsrichtung ist hier keine verlässliche Aussage möglich.
4 Zur Heterophoriebestimmung
4.1 Es ist erfreulich, dass die verfügbaren Systeme die komplette MKH-Testreihe enthalten. Somit ist es jedem Anwender möglich, eine professionelle Heterophoriebestimmung durchzuführen.
4.2 Ungeklärt ist bislang die mögliche Auswirkung peripherer Stereoreize. Neben Ablenkung des Klienten sind insbesondere orthopetale Fusionsreize während der Heterophoriebestimmung denkbar. Wir empfehlen daher, den 3D-Hintergrund bis auf Weiteres an allen Heterophorietesten zu deaktivieren und durch das optional verfügbare graue Umfeld zu ersetzen.
4.3 Unverständlich erscheint uns, dass im PasKal-System der in der Standard-Testreihe zunächst enthaltene MKH-Kreuztest durch einen 1966 von dem amerikanischen Optometristen Bernard Grolman vorgeschlagenen Winkel-Kreuztest ersetzt wurde. Schon H.-J. Haase hatte sich bei der Entwicklung seiner Testreihe mit dieser Anordnung auseinandergesetzt und unter anderem auf Probleme aufgrund von orthofugalen Fusionsreizen hingewiesen. Zusätzlich fand er erhebliche Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Seheindrücke durch den Klienten. [Haase HJ, Zur Fixationsdisparation, Optische Fachveröffentlichung, Heidelberg 1995, S 173ff] Der eingebundene Grolman-Test enthält ein zentrales Fusionsobjekt. Dies regt zu motorischer Fusion an, was der Messung motorischer Kompensationsanteile einer Heterophorie entgegensteht. Erfahrungsgemäß sind gerade diese Anteile häufig für Anstrengungsbeschwerden verantwortlich und müssen gründlich erfasst werden. Besonders irritierend ist, dass dies der einzige Heterophorietest in der Standard-Testreihe des PasKal-Systems ist. Auf die MKH-Testreihe übertragen würde dies bedeuten, die Heterophoriebestimmung allein am Doppelzeigertest durchzuführen. Das wäre völlig abwegig und widerspräche allen akzeptierten Standards. Wir plädieren daher mit Nachdruck dafür, diese Änderung der Standard-Testreihe rückgängig zu machen.
4.4 Schließlich fällt auf, dass die Standard-Testreihe von PasKal einen veralteten Test zum Bestimmen der Stereosehschärfe enthält, obwohl aus der MKH-Testreihe ein aktueller differenzierter Stereotest zur Verfügung steht. Dieser D10 erfüllt u.a. folgende Anforderungen: Strichförmige Testfiguren, zufallsgenerierte Anordnung der Stereofiguren, logarithmische Abstufung der Stereowinkel, Stereowinkel bis ca. 5 Winkelsekunden. Es ist bekannt, dass sich durch vertikale Konturen bestmögliche Stereoreize erzielen lassen [Sachsenweger R. Experimentelle und klinische Untersuchungen des stereoskopischen Raumes. Nova Acta Leopoldina 136, Band 20. Verlag Johann Ambrosius Barth. Leipzig, 1958, S 52] und entsprechend werden in differenzierten Stereotesten seit 1997 fast ausschließlich Striche verwendet. Der „Stereopsistest mit abgestufter Parallaxe“ in PasKal, der laut Testbeschreibung „für höchste Stereopsis“ dient, verwendet als Testfiguren Ringe, ist nicht logarithmisch abgestuft und enthält als kleinsten Stereowinkel 30 Winkelsekunden. Der durchschnittliche Stereogrenzwinkel beträgt jedoch 5 bis 10 Winkelsekunden. [Schober H. Das Sehen. Bd II. 2. Auflage. Fachbuchverlag. Leipzig, 1958, S 420]
5 Schlussbemerkungen
Die Möglichkeiten der verwendeten Technik sind vielversprechend. Die bereits in anderen Sehprüfgeräten verwendete zirkulare Polarisation überzeugt auch bei den Systemen der „3D-Refraktion“ mit guter Bildtrennung. Eine Bewertung der „3D-Refraktion“ alleine aufgrund von Technik und Ausstattung der Systeme wäre jedoch nicht sinnvoll. Die Systeme bieten zwar eine Vielzahl von Testen und sind flexibel anpassbar an individuelle Gegebenheiten vor Ort und Vorstellungen des Anwenders, jedem Anwender sollte allerdings bewusst sein, dass es in seiner Verantwortung liegt, die Voreinstellungen des Herstellers zu überprüfen und ggf. zu ändern, indem er z.B. seine eigene Testabfolge einrichtet. Auch entscheidet er, in welchen Fällen eine Zudeckscheibe verwendet wird und an welchen Testen das 3D-Hintergrundbild zu deaktivieren ist.
Bisherige Untersuchungen haben nicht bestätigt, dass die „3D-Refraktion“ genauere Ergebnisse liefert. Wir raten daher von entsprechenden Werbeaussagen ab, einerseits im Sinne eines seriösen fachlichen Auftritts, anderseits aus wettbewerbsrechtlichen Gründen.
Abschließend möchte die IVBS ausdrücklich betonen, dass sie die bisher investierte Entwicklungsarbeit schätzt und respektiert. Gern tragen wir zu einer weiteren Optimierung dieser innovativen Systeme bei. Dies zu befördern ist eines der Hauptmotive dieser Stellungnahme.