Wenn etwa durch einen Unfall der Sehnerv durchtrennt wird, erblinden die Betroffenen unabwendbar. Zur Selbsterneuerung ist der Nerv, der die Lichtreize der Netzhaut ins Sehzentrum des Gehirns leitet, nicht in der Lage. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den USA und Frankreich haben Forscher der Universitätsaugenklinik Leipzig nun ein Material entwickelt, das verletzten Nerven beim Wachsen helfen könnte: elektrisch gesponnene Seidenfäden. Die Ergebnisse der Zellkulturversuche sind vielversprechend.
Vielleicht einmal möglich: Mit Seidenfasern Sehnerv retten
„Anders als Nerven des peripheren Nervensystems, zu denen etwa der Ischiasnerv gehört, sind Nerven des Zentralen Nervensystems, also Gehirn, Rückenmark und Sehnerv, nicht zur Regeneration fähig“, erklärt Professor Dr. Thomas Claudepierre, Wissenschaftler an der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig. „Um einen Nerv des Zentralen Nervensystems zum regenerativen Wachstum zu bewegen, brauchen wir Biomaterialien, die für den verletzten Nerv eine Art Gerüst bilden, an dem er entlang wachsen kann. Gleichzeitig sollten sie sein Wachstum anregen“, so der Experte.
Elektrisch gesponnene Seidenfasern – nur wenige Millionstel Millimeter dick – eignen sich hierfür gut, fanden Claudepierre und Kollegen heraus. Insbesondere wenn sie bei der Herstellung mit Wachstumsfaktoren versehen werden, sind sie ideale Richtungsweiser für Nervenzellen, berichteten die Wissenschaftler jüngst im Fachmagazin „Advanced Functional Materials“. Neben Professor Dr. Thomas Claudepierre und Professor Dr. Peter Wiedemann, Direktor der Universitätsaugenklinik Leipzig, waren Wissenschaftler der Tufts Universität in Boston, USA, und der französischen Universitäten Straßburg und Compiègne an der Studie beteiligt.
Für ihre Versuche nutzten die Forscher Zellkulturen von Netzhautnervenzellen der Ratte, die sie – um die Zerstörung des Nervs zu simulieren – in ein schädigendes Medium setzten. Wie sich zeigte, konnten die Zellen – trotz der widrigen Bedingungen – an parallel angeordneten Seidenfäden auf einem Deckgläschen entlang wachsen. Indem die Forscher die Seidenfäden bei der Herstellung mit bestimmten Wachstumsfaktoren versetzten, konnten sie diesen Effekt noch verstärken. „Wachstumsfaktoren, die in die Fasern eingeschlossen sind, können ihre Funktion über einen langen Zeitraum beibehalten“, erläutert Claudepierre. Die Ausläufer von Nervenzellen, die an diesen speziell funktionalisierten Seidenfäden wuchsen, erzielten im Vergleich zu den Versuchen mit „normalen“ Seidenfäden die zwei- bis dreifache Länge.
Zum elektrischen Spinnen von Seidenfäden wird eine Flüssigkeit mit dem Seidenprotein „Fibroin“ in eine Spritze geladen und durch das Anlegen einer starken Spannung elektrostatisch aufgeladen. Anschließend wird die Flüssigkeit als feiner Strahl zu einer negativ geladenen, rotierenden Kollektorspule geleitet. Um den Seidenfaden in paralleler Anordnung „einzufangen“, befestigten die Wissenschaftler auf der Spule kleine Deckgläschen.
„Unser Ziel ist die Entwicklung eines 3-D-Gerüsts, das an der Stelle einer Nervenschädigung implantiert wird und die Zellen dabei unterstützt, ihre Nervenfortsätze zu regenerieren“, erklärt Claudepierre. Als nächsten Schritt wollen die Leipziger Wissenschaftler mit ihren Kollegen untersuchen, inwieweit auch die Gliazellen, die das Stützgewebe der Nervenzellen bilden, mithilfe der Seidenfasern ihre Orientierung wiedererlangen können. Anschließend soll das Modell im Tierversuch getestet werden. Sind die Versuche erfolgreich, könnte die Methode eines Tages dabei helfen, Menschen vor gravierenden Behinderungen, etwa einer Erblindung, zu bewahren.
Coverfoto
Nervenzellen der Netzhaut (grün), die an elektrisch gesponnenen Seidenfäden (rot) entlangwachsen. (Maßstabsbalken: 50 Mikrometer; Quelle: Universitätsklinikum Leipzig)
Literaturhinweis
Wittmer, C. R., Claudepierre, T., Reber, M., Wiedemann, P., Garlick, J. A., Kaplan, D. and Egles, C. (2011), Multifunctionalized Electrospun Silk Fibers Promote Axon Regeneration in the Central Nervous System. Advanced Functional Materials, 21: 4232–4242.
Die Studie wurde unterstützt von der Französischen Stiftung Gueules Cassées und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.